Sabine B. Vogel / Bewegte Räume / ISBN 3-85486-2

I.
In einem dunklen Raum bewegt sich eine Lichtbahn über die Wände. Kanten und Unebenheiten der Begrenzungen werden für einen kurzen Moment sichtbar. In einer computerorientierten Sprache bietet sich für diese Installation von Manfred Grübl der Vergleich mit Scannern. Zentimeter für Zentimeter wird der Raum in seinen Einzelinformationen abgetastet. Diesen Vorgang greifen Manfred und Elisabeth Grübl in ihrer Koproduktion, einer Serie von Monitorprojektionen auf: Langsam bewegt sich eine Linie vertikal über drei Bildschirme, ein andermal horizontal, sich dabei ausdehnend und wieder zurückziehend. Oder als schwarze Fläche, die langsam von oben nach unten die Monitorflächen zudeckt.

Ein ähnlicher Prozess stellt den Ausgangspunkt seiner neuesten Serie: Die visuelle Sprache des „Rendering“, also das digitale Berechnen und Darstellen von dreidimensionalen Ansichten in einer gleichmäßigen Bewegung, wird direkt vom Computer herausgespielt und in den Raum projiziert. Möglichst unvorbelastete Formen wie z.B. Moleküle sind als große blaue Fläche im Bild, verändern sich mit jeder Linienbewegung aus der monochromen Mikro- in die Makrostruktur kleiner Kügelchen. Rendering 02 beginnt mit abstrakten Pixeln, die sich langsam zum Bild einer sich drehenden, monsterähnlichen Puppe zusammenfügen. Nicht mit computergenerierten Bildern, sondern auf dem Filmmaterial einer anonymen Menschenmenge, die durch einen Gang geht, arbeitet Grübl in rendering 08: Zeile für Zeile werden die Farbpixel halbiert, bis sich das Raster zu Menschen zusammenfügt.

II.
Die technologischen Vorgänge bilden eine Art Rahmen von Grübls Werken. Der ist bestimmt von einer Faszination dieser Abläufe und der Frage einer Übertragung in andere Dimensionen, auf andere Räume. So zeigen Grübls Werke denn auch in einer weniger technologischen Betrachtung eine skulpturale Beschäftigung mit Raum. Die Linien zeichnen zunächst einen geometrischen Raum nach. Der geometrische Raum ist homogen, Länge mal Breite mal Höhe, überall gleichwertig, und reduziert komplexe Umgebungen auf Flächen – Raum als eine technisierte Oberfläche der Welt, ein lückenloses Kontinuum. Die Scanner- und die Rendering-Werke zeigen zugleich diesen Raum und wachsen darüber hinaus. Sie öffnen eine Tür in einen anderen, von Licht- und Farbspielen gebildeten Raum, der sich in Bewegung befindet. Diese Räume werden in einer flüchtigen Bildsprache auf einer abstrakt-skulpturalen Ebene als Raum im Raum permanent erzeugt.

III.
Wenn ich von einem „Raum im Raum“ spreche, erinnert das an architektonische Konstruktion. Tatsächlich studierte Grübl vor seiner Kunstausbildung zwei Jahre Architektur bei Hans Hollein. Seine Skulpturen, d.h. sowohl die computergenerierten Abläufe als auch seine Kleidungsstücke oder die Personalen Konstellationen ließen sich vor diesem Hintergrund als imaginäre Architekturen beschreiben.

Die Personalen Konstellationen entstehen durch acht identisch gekleidete Personen in einer geschlossenen orthogonalen Anordnung. Jede Person blickt eine einzige, weitere Person an. Diese für die Dauer des Ereignisses bewegungslose Ordnung arrangierte Grübl im New Yorker Lincoln Center während der Vorführungspause. In der Saatchi Gallery begann die Aufstellung zum Zeitpunkt von großer Fülle während einer Ausstellungseröffnung. Mit zunehmender Leere wurde die Gruppe immer deutlicher sichtbar, bis sie sich mit dem letzten Besucher auflöste. In der Berliner Nationalgalerie ließ Grübl drei Personen im Inneren sowie fünf außen vor der großen Glasfassade des Mies van der Rohe-Gebäudes Stellung beziehen. Hier durchbricht die Gruppe die Grenze zwischen architektonischem Innen- und Außenraum.

Ein ähnlicher, durch Menschen gebildeter Raum entsteht auch durch die Kleidungsstücke. Grübl entwarf eine Hose und ein T-Shirt, die durch die aufgenähten Reißverschlüsse verwandlungsfähig bis zur Nutzung als Umhängetasche sind. Diese Teile trug eine Gruppe von mehr als 20 Personen, die zu keinerlei Anordnung oder Handlung instruiert waren, sondern lediglich aufgrund des Stoffes im Licht eines Nachtclubs auffällig leuchteten.

In jeder dieser Arbeiten entstehen Linien, die imaginär gezogen werden können oder als sichtbare, von jedem Zusammenhang isolierte Linien über Flächen wandern. Der Raum, der daraus entsteht, geht über die Beschreibungshilfen „geometrischer“ und „architektonischer“ Raum hinaus. Denn Grübls „Räume“ sind keine statischen Gegebenheiten, sondern räumliche Ereignisse. Sie vereinen die verschiedensten Eigenarten von Raum: sie sind zugleich Ausdehnung und Verortung, spielen mit den Möglichkeiten von Lagerung bzw. Archivierung und mit Raum-Funktionen.

IV.
„Raum“ ist weit mehr als es die geometrische Definition nahe legt. Raum ist zugleich Metapher und Grundkonstruktion. Albert Einstein bezeichnet Raum als „eine Art Ordnung körperlicher Objekte“. Heidegger fasst den Begriff noch weiter, wenn er schreibt, dass der Raum „in der Welt“ eine von uns ausgearbeitete, gelebte und „besorgende“ Sinnkonstruktion sei. Raum ist „weder im Subjekt noch ist die Welt im Raum“.

Zur Ausstellung Invisible Touch im Kunstraum Innsbruck ließ Manfred Grübl wiederum in Zusammenarbeit mit Elisabeth Grübl blaues Licht im „Nightliner“, dem öffentlichen Nachtbus installieren – ein Beitrag, der bis heute, lange nach Ausstellungsende noch das Stadtbild beherrscht. Die starke Farbe verleiht dem Bus etwas Unwirkliches und wird zugleich zum neuen Erkennungszeichen, zu einem kleinen Ordnungsteil im nächtlichen Stadtbild. Auch die anfangs erwähnten scannerähnlichen Rauminstallationen erzeugen zugleich die Ordnung der gleichmäßigen Bewegung und die Illusion, sich im Inneren eines technologischen Vorgangs zu befinden – ein Eindruck, der im Entwurf von Rendering 03 (2000) noch deutlicher wird. Hier führt ein Gang durch zwei blaue Scheiben auf eine große Projektionsfläche zu, die von der blauen Fläche in die kleinen Kügelchen leitet. Die BetrachterInnen stehen mittendrin, als buntes Teil inmitten der geschlossenen blauen Umgebung – einer beeindruckenden Ordnung von Mikro- und Makrokosmos, die als Erklärungsmodell für jeden wirklichen Raum gilt und hier wie eine Illusion sichtbar wird. Grübls Werke bieten in sich geschlossene Systeme an, in denen die Kategorien „innen“ und „außen“ ebenso eng zusammenrücken wie Ordnung und Illusion; bewegte Räume, die nicht zu betreten, sondern zu erleben sind.

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